Zwar halte ich es für legitim, wenn ein Angehöriger der grössten Opfergruppe des Nazifaschismus allein die eigene Gruppe dahingehend prüft, warum sie Opfer wurde, also nicht fragt: Warum AUCH wir Juden?, aber man darf sich nicht wundern, wenn solch ein wissenschaftlicher Tunnelblick dann Halbwahrheit zum Ergebnis hat. Und bekanntlich können halbe Wahrheiten manchmal ganze Unwahrheiten sein.
Die exklusive Frage wie Götz Aly sie stellt, bedeutet ja implizit, dass er oder wir alle verstehen, warum all die anderen gezielten, systematischen Opfer der Nazis zu Opfern gemacht wurden, lediglich warum auch die Juden Opfer wurden, sei bislang unklar geblieben.
Götz Aly kommt zu dem Ergebnis, die geistig schnelleren, beweglicheren, erfolgreicheren Juden seien von den trägeren, erfolgloseren Deutschen aus lange schwelendem Neid schliesslich umgebracht worden. Nicht nur dass Alys Schlussfolgerung erstaunlich aktuell in die grassierende Wirtschaftskrise mit ihren Verteilungskämpfen und Neiddebatten passt, wie die Faust auf‘s Auge, halte ich seine Schlussfolgerung darum für einen opportunistischen Versuch der Besitzstandswahrung mit den Mitteln der Leser-Manipulation, und für wissenschaftlich nicht haltbar. Seine aufgeführten Beispiele ab 1800, für einen in Deutschland verbreiteten Antisemitismus, anhand von Dichterworten, sind zwar isoliert betrachtet beeindruckend, aber es fehlen Überlegungen zur zahlenmässigen Verbreitung solcher Schriften und wer denn - im Zeitalter von Pferdekutschen und ohne Radio und Fernsehen denn überhaupt die Leser antisemitischer Literatur waren - wohl kaum die einfachen Leute (die "Bildungs fernen Schichten") oder ganz überwiegend bis fast ausschliesslich die Bildungsbürger?
Das würde sich mit der späteren Beobachtung decken, dass Hilfe für die verfolgten Juden während der Nazizeit selten von der Mittel- und Oberschicht (den Gebildeten), sondern überwiegend von den einfachen Leuten kam.
Wenn man den Tunnelblick auf die Juden als Opfer des Nazifaschismus erweitert auf alle Opfer und die Frage nach ihren gemeinsamen Opfereigenschaften stellt, scheint die Antwort, sie seien das Ziel von Neid gewesen, nicht zutreffend. Warum sollten die angeblich geistig langsamen, trägen Deutschen auf die sicherlich noch langsameren und trägeren Geisteskranken und Behinderten in Heimen und Anstalten neidisch gewesen sein? Und sie darum umgebracht haben. Wohl eher im Gegenteil hätten sie die noch mehr Unterlegenen sich erhalten müssen. Waren die Deutschen auch auf Zeugen Jehovas, Kommunisten, Homosexuelle, Zigeuner, Sinti und Roma neidisch? Wohl eher nicht. Wenn doch, dann wäre es ein wahrhaft krankhafter Neid gewesen, weil nicht auf Leistung und weltlichen Besitz, sondern auf natürliche Eigenschaften von eh schon unterprivilegierten Minderheiten: auf die Freiheit und Ungebundenheit der Zigeuner, ihre körperliche Schönheit, ihr Temperament und ihre eigene geheime Sprache und Welt, der Gemeinsinn und die Leidensfähigkeit der Zeugen Jehovas, der Altruismus, Gemeinsinn und die Menschliebe der wahren Kommunisten, die kindliche Welt der für verrückt Erklärten, usw. Wer auf solche Menschen noch neidisch ist und sie umbringen will ist wirklich krank in Geist und Gemüt. Ein angeblicher Neid der Deutschen auf die Juden wäre ja mehr ein Neid auf erworbene Privilegien und Besitztümer, also anders als auf die Eigenschaften und Restfähigkeiten der unterprivilegierten anderen Opfergruppen. Wäre das Motiv in alle Opferrichtungen nur Neid, dann wäre die These von Aly keine nur in Richtung Juden zielende mehr. Aber wenn es Neid nur auf die Juden war, was ist denn dann das gemeinsame Kriterium, der Massstab, der Antriebsmotor, die Juden aus Neid umzubringen, weil die für die Deutschen zu schnell, zu agil, zu erfolgreich waren, und die anderen Gruppen wegen ihrer Langsamkeit und Erfolglosigkeit, also dem Gegenteil jüdischer Eigenschaften, umzubringen? Götz Alys Neidthese erscheint nur stimmig in der verkapselten Form seines opportunistischen Tunnelblicks. Macht man sich hingegen das ganze Bild, erhält man eine wahrere, aber auch beängstigendere Antwort: Es ist die Technisierung der Gesellschaften, die vor etwas mehr als hundert Jahren insbesondere in Deutschland richtig losging, aber mehr oder weniger alle Gesellschaft in ihren Grundfesten erschütterte - in Deutschland wohl eher mehr. Denn wohl kaum ein Volk ist so Technik besessen wie die Deutschen. Heute sind wir da wohl mit den Japanern an der Spitze, vor hundert Jahren war vermutlich kein Volk so technoid wie die Deutschen. Vielleicht als Folge oder weil seinerzeit die wohl revolutionärsten Erfindungen des Otto- und des Dieselmotors und des Automobils in Deutschland gemacht wurden. Diese Erfindungen haben Deutschland einseitig in die Moderne katapultiert, der Rest der Welt folgte nach und nach.
Je mehr der einzelne Mensch und eine ganze Gesellschaft mit Maschinen lebt, desto mehr Eigenschaften und Funktionskriterien von Maschinen werden selbst zum Massstab für Menschen und Gesellschaften. Beispielsweise wird eine zunehmende Homogenisierung, also Gleichmacherei auch unter den Menschen erzeugt, und auch Massstäbe wie Effizienz und Wirkungsgrad, optimale Geschwindigkeit werden auch bei Menschen und Gesellschaften angelegt und zum Kriterium über Wohl oder Wehe - es wird der Maschinen bzw Computer kompatible Mensch bevorzugt, alle anderen werden mehr oder weniger rigoros aussortiert.
Vermutlich traf vor rund hundert Jahren eine enorme Technisierungswelle in Deutschland auf ein geistig-moralisch und emotional besonders rückständiges Volk - wie von Aly beschrieben. Eine fatale Kombination, die zu Faschismus reagiert hat. Ein dumpfes Volk hat sich plump-fortschrittlich an Maschinen-Kriterien orientiert und sie einfältig und pseudo-modern auf andere Menschen und Gesellschaften angewendet. Vom Auto kennen wir den optimalen Drehzahlbereich, alles darüber und darunter ist schädlich für den Motor. Folglich wurden in der Nazizeit all jene Menschen als schädlich angesehen, die als zu schnell, als zu individualistisch, also nicht seriell und austauschbar genug, und als zu langsam und nutzlos bewertet wurden. Die herrschenden Deutschen haben kalt und gefühllos wie Maschinen auch Maschinen-Kriterien an jeden Menschen und an die ganze Gesellschaft angelegt („Der deutsche Junge soll hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder (daraus waren wohl noch die Antriebsriemen der Motoren und Maschinen) und flink wie ein Windhund sein“) - hier und da eine biologische Metapher sollte wohl den Bezug zur Mittel- oder Oberschicht herstellen.
Neid als vermeintlicher Grund für die Vernichtung der europäischen Juden durch die deutschen Nazis, ist eine zu vordergründige, zu bequeme Antwort, und zu schön instrumentalisierbar auch heute noch.
Es war eher „die Banalität des Bösen", wie Hannah Arendt es genannt hat: die naive Technisierung des Humanen. Diese Wahrheit liegt tiefer und sie ist bedrückender, denn diese Gefahr ist neuer als die uralten menschlichen Schwächen wie etwa der Neid, und sie wächst zu immer bedrohlicherer Grösse. Ohne Technik kann es keinen Faschismus geben. Technik als faschistische Bedrohung ist ein Ungeheuer der Neuzeit, das mehr Menschen verstümmelt und verschlingt, als die Nazidiktatur, und das gewaltsamer von uns Besitz ergreift, als uns der einfache Neid von Nachbarn bedroht.
Die Auflistung im Untertitel von Alys Buch: Gleichheit, Neid und Rassenhass, mit der Gleichheit an erster Stelle weist meiner Ansicht nach eben nicht Richtung Sozialismus, sondern Richtung durchtechnisierte Menschen und Gesellschaften.
Eine total durchtechnisierte Welt, in der nicht nur Roboter gebaut, sondern Menschen selbst zu Robotern gemacht werden, halte ich für eine faschistische Welt.