Erinnert sich noch jemand an den Fall Andrej Holm? Ein Wissenschaftler welcher von den "Sicherheitsbehörden" der Zughörigkeit zum Terror verdächtigt wurde, weil einige markante Wörter oder Sätze in seinen wissenschaftlichen Texten auch auf Bekennerschreiben von politisch wohl eher links motivierten Gesetzesbrechern gefunden wurden. Die "Sicherheitsorgane" vermuteten da nicht nur eine geistige, sondern womöglich auch eine tätige Nähe.
Vor einigen Wochen las ich aus technisch-wissenschaftlichem Interesse den Roman "Exponentialdrift" von Andreas Eschbach. Es handelt sich ursprünglich um einen Fortsetzungsroman, dessen einzelne Kapitel in 2001 / 2002 fast ein Jahr lang in der FAZ erschienen. In 2003 hat der Autor die einzelnen Folgen zu einem Buch zusammengefasst und ein "Making-Of" hinzugefügt. Als ich darin las, schreckte ich an einer Textstelle zusammen. Eschbach äussert sich grundsätzlich über Schriftsteller und ihre Romanfiguren:
Es ist das Ziel des Schreibens, Figuren zu erschaffen, die ‚stimmen‘, die zu leben scheinen.
Angenommen, man erzählt, ohne sich etwas dabei zu denken, beim ersten Auftauchen der Figur im Roman, sie liebe Blumen. Einfach, weil man irgend etwas schreiben muss.
Doch zweihundert Seiten weiter steht, sagen wir, eine Verfolgungsjagd an, unsere Figur verfolgt einen Bösewicht in einen Blumenladen. Vielleicht wird unsere Figur zögern, den Bösewicht über den Haufen zu schiessen, weil der auf die Kübel mit all den herrlichen Rosen und Azaleen fallen könnte. Vielleicht wird unsere Figur abgelenkt, weil sie plötzlich eine Orchidee entdeckt, die sie schon seit Jahren sucht, und der Schurke nutzt den Moment der Unaufmerksamkeit und flieht.
Was also wird man tun? Entweder gestaltet man die Verfolgung so um, dass die Zuneigung der Figur zu Blumen zum Ausdruck kommt, oder man geht zurück und ändert die Voraussetzungen. Wenn die Figur statt Blumen türkischen Honig liebt, kann sie in einem Blumengeschäft kalten Herzens umherballern, so viel sie will. Oder wir machen aus dem Blumengeschäft einen Zeitungskiosk. Je nachdem, was besser passt.
Aber passen muss es. Und das ist es, was ein Autor meint, wenn er Ihnen erzählt, er könne nichts machen gegen das, was seine Figuren anstellen.
Schlagartig fiel mir dazu die Neonazi-Mordserie ein. Die erste Tat wurde einige Monate zuvor begangen - an einem Blumenhändler. Wenn Eschbach sich irgendwie auf Fakten aus Medienberichten darüber bezogen hätte, wäre das in seinem obigen Zusammenhang allein schon dubios, aber es ist noch eigenartiger: es wurde tatsächlich auch ein Kioskbesitzer ermordet, allerdings nach Erscheinen des Romans.
Ebenfalls im "Making Of" zum o.g. Roman teilt Eschbach seinen Lesern mit:
Aus purem Jux und Dollerei beschloss ich, den [fiktiven.d.B.] Schriftsteller Peter Eisenhardt in den Kreis der Verschwörer aufzunehmen, meinen Lesern schon aus „Das Jesus Video“ bekannt und seither im Verdacht lebend, mein Alter ego zu sein (er ist es nicht, nebenbei bemerkt).
Und weiter:
Die ersten Fassungen der einzelnen Folgen waren nicht selten doppelt so lang wie das erlaubte Limit, was mich in der Überarbeitung zwang, eine erfrischende Grausamkeit dem Text gegenüber zu entwickeln.
Wir haben also einen Romanautor, der Bücher über HighTech und ferngesteuerte Menschen verfasst und dabei auch Schriftsteller als Mitglieder von Verschwörungen darstellt, Grausamkeit erfrischend findet und der, als Beispiele für Romanfiguren und ihre Handlungen, aus einer realen Neonazi-Mordserie Fakten einflicht, die in der Wirklichkeit teils vorher passiert sind, teils erst danach passiert sein werden.