Ein Tsunami idiotischer Äusserungen und Verhaltensweisen überschwemmt uns Medienkonsumenten, man weiß gar nicht mehr, wo man anfangen soll, den Irrsinn auf zu arbeiten. Also fokussiere ich mich auf jene Dinge, von denen ich mich persönlich am ehesten betroffen fühle.
Da gibt es diesen Skandal um eine junge Frau aus der sog. Querdenkerbewegung, die auf einer Demo in Hannover sagte, sie fühle sich wie die Widerstandskämpferin Sophie Scholl. Eine andere junge Frau soll woanders gesagt haben, sie fühle sich im Lockdown wie Anne Frank in ihrem Exil-Versteck. Worauf ein jüdischer Funktionsträger gesagt haben soll, wer sich als Opfer der heutigen Verhältnisse darstelle und mit Opfern aus der Nazizeit Parallen ziehe, sei ein Antisemit. Die junge Frau auf der Demo soll angeblich dem Jugendamt zugeführt werden, welches mit den Eltern ein ernstes Gespräch führen soll, wie das Mädchen dazu komme, sich mit Sophie Scholl gleich zu stellen.
Was die Äusserungen der beiden Frauen angeht, finde ich, sie enthalten einen unakzeptablen und einen akzeptablen Teil. Der zu kritisierende Teil der Äusserungen ist ein typisches Zeichen unserer Zeit, nämlich die Tendenz und Anmaßung, zu glauben, das Innen- und Gefühlsleben ganz konkreter Personen zu kennen. Während man früher nur die äusserlich erkennbaren Verhaltensweisen von Personen bewertet hat, maßt man sich heute zunehmend an, den Charakter und das Innenleben von Personen zu kennen und zu bewerten. Also man redet weniger über das konkrete Verhalten, sondern greift eher auf das mutmaßliche Gefühlsleben und die mutmaßlichen Gedanken von Personen zu. Statt der Anmaßung zu wissen wie sich Sophie Scholl oder Anne Frank gefühlt haben müssen, hätten die beiden Querdenker-Frauen besser die Ähnlichkeit ihrer Gefühle zu den ihnen bekannten Beschreibungen aus der Nazizeit benennen sollen.
Was das Sehen oder Empfinden von Parallelen zu Verhältnissen der Nazizeit angeht, also sog. Nazi-Vergleiche, die von Funktionsträgern der Eliten abgelehnt werden, ist zu sagen:
Wer Nazi-Vergleiche ablehnt, der versucht historisch einen Schlussstrich zu ziehen. Das ist Fakten widrig. Wer Opfer der Gegenwart pauschal quasi als Fake diffamiert, redet Fakten widrig und steht geistig-moralisch auf der gleichen Stufe wie Donald Trump oder schlimmer.
Gründe: Wenn jüdische Menschen in Deutschland, nach Angriffen auf sich oder auf jüdische Einrichtungen, beklagen dass sie wieder Angst haben müssen öffentlich eine Kippa zu tragen, und dass sie und jüdische Einrichtungen immer noch oder wieder geschützt werden müssen, dann ist auch das eine Bezugnahme, also ein Vergleich, mit der Nazizeit. Ist das verharmlosend, relativierend und falsch? Sicherlich nicht! Wenn man einerseits zwar die Erinnerung an die Nazizeit lebendig hält, aber wenn Leute sich in einigen Aspekten heutiger Lebensverhältnisse, die ja stetig verändert werden und individuell sehr unterschiedlich sein können, an das erinnert fühlen, was ihnen als typisch für die Nazizeit beigebracht wurde, sie dann als Verharmloser, Relativierer oder gar Antisemiten diffamiert werden, dann ist das ignorant, herzlos, infam und widersinnig.