Donnerstag, 25. November 2021

"False balance" in den Medien aus der Sicht von C. Drosten

Aus einem Interview vor einigen Monaten:

Herr Drosten, in Deutschland wurden Sie mit dem NDR-Podcast «Corona­virus-Update» für viele zur ersten Informations­quelle in dieser Krise. Was hätten Sie damals, als Sie vor über einem Jahr mit dem Podcast begannen, gerne gewusst, was Sie heute wissen?
Wie die Medien funktionieren, das wusste ich damals nicht.

Was meinen Sie damit?

Was mir überhaupt nicht klar war, ist diese false balance, die entstehen kann in der Öffentlichkeit, in den Medien. Und dass man diese nur bedingt korrigieren kann.

False balance?
Dass man sagt: Okay, hier ist eine Mehrheits­meinung, die wird von hundert Wissenschaftlern vertreten. Aber dann gibt es da noch diese zwei Wissenschaftler, die eine gegenteilige These vertreten. In der medialen Präsentation aber stellt man dann einen von diesen hundert gegen einen von diesen zweien. Und dann sieht das so aus, als wäre das 50:50, ein Meinungs­konflikt. Und dann passiert das, was eigentlich das Problem daran ist, nämlich dass die Politik sagt: «Na ja, dann wird die Wahrheit in der Mitte liegen.» Das ist dieser falsche Kompromiss in der Mitte. Und das ist etwas, das ich qualitativ nicht kannte. Ich wusste nicht, dass es dieses Phänomen gibt. Ich wusste auch nicht, dass das so hartnäckig ist und sich zwangs­läufig einstellt. Das hat sich ja in praktisch allen Ländern eingestellt, dieses Problem. Alle Wissenschaftler sprechen davon. Dass ich da durch einen Podcast mitten in dieses Spannungs­feld reingerate, war mir nicht klar.

Sie bereuen den Entscheid?
Nein. Ich weiss nicht, ob das ein Grund wäre, deswegen so etwas nicht nochmals zu machen. Ich glaube, das war schon komplett richtig, es gemacht zu haben. Es hatte schon so einige gute Effekte, gerade in der ersten Welle, als auch diese false balance noch nicht so stark war. Die kam erst mit dem Herbst, mit dem Beginn der zweiten Welle. Und die Quittung dafür kam ja in der zweiten Welle dann auch: Diese Politik war einfach orientierungs­los. Dort haben Sie dann auch Leute, die sagen: «Ah, der eine Wissenschaftler hat das gesagt. Ich mag aber den anderen Wissenschaftler lieber, und der hat das andere gesagt.» Und dann fangen die Politikerinnen an, das miteinander zu verhandeln. Dann kommt dieser Kompromiss in der Mitte zustande, der zu einer halbherzigen Lösung führt. Und die verzeiht dieses Virus echt nicht.

Quelle

Dem entgegne ich, diese Schwierigkeit haben wir doch auch bei der Stimmenverteilung in Gremien wie der UN, EU usw.. Die Chefs von Indien und China vertreten jeweils ~1 Milliarde Menschen, Deutschland nur 80 Millionen. In der EU muß das kleine Malta auch eine Stimme haben, einfach weil es anders ist und darum nicht einfach irgendwo submummiert werden kann. Ungerecht?

Die Wissenschaftsgeschichte lehrt, sehr viele anfängliche Minderheits-Ansichten erwiesen sich später als wahr und wurden Mainstream!: 

Einstein mit seiner Relativitätstheorie, oder auch schon Galileo, oder in der Medizin Semmelweis' Theorie wurde bis zu seinem Tod bekämpft, er vermutlich sogar von seinen ärztlichen Gegnern umgebracht. 

Wer am Ende recht hat und wer nicht, weiß man natürlich nicht unbedingt schon vorher, darum ist die Fokussierung auf die Sache so wichtig, also das Freimachen von Gewohnheiten, persönlichen Gefühlen und versteckten Abhängigkeiten.

Auch erscheint das vermeintliche Problem der falschen Mitte wohl überschätzt, denn sowas geht ja eigentlich nur bei Mengenproblemen. So kann es etwa bei der Frage einer Impfung für Kinder ja oder nein, keine einfache Mittenentscheidung geben - nur die Hälfte der Kinder impfen, oder nur die Jungen.  Also die Politiker können sich oft nicht für eine Mitte entscheiden, sondern nur entweder - oder. Der Fehler einer Entscheidung nur nach Sympathie liegt dann nicht darin, unterschiedliche Theorien und Vorschläge gehört zu haben.
 

Schließlich könnte eine "false balance" ja auch mehr oder weniger durch die höhere Wahrscheinlichkeit ausgeglichen sein, daß unter den 100 Mainstreamwissenschaftlern eher jemand zu finden ist, der das Anliegen der Gruppe supergut medial rüberbringen kann, also quasi eine Art Klassensprecher und medialer Sympathieträger, als daß unter den 2 Außenseiterwissenschaftlern einer ist, der dem medialen Superspreader des Mainstream medial paroli bieten kann. 

 

p.s. Wenn hundert Wissenschaftler einer Meinung sind, warum präsentieren die Medien immer nur eine Vorzeigefigur? Warum sagt die Vorzeigefigur nicht: Nein, nehmt einen Kollegen von mir, es gibt noch 99 andere. Dann wären nach 100 Sendungen alle Mainstreamer zu Wort gekommen - Balance ausgeglichen.